Laudatio zum Frau Ava Literaturpreis 2025

Allgemein, Literaturpreise

von Christa Gürtler

Frau Ava Literaturpreis 2025 an Lisa-Viktoria Niederberger

Laudatio I Christa Gürtler

Lisa-Viktoria Niederberger überzeugte mit ihrem Kurzprosatext „Der Wald“ die Jury, die einstimmig ihren Text aus rund 83 Einsendungen wählte.

Handlungsraum des Siegerinnentextes ist ein Dorf an einem der tiefsten Seen in einer Region, die das Salzkammergut sein könnte. Die Zeit der Sommerfrische und des Schiurlaubs ist Vergangenheit, Schnee gibt es keinen mehr und wegen der Hitze auch keine Saiblinge. Handlungszeitraum ist eine nahe Zukunft. Die Ich-Erzählerin ist nach dem Tod ihrer Eltern mit ihrer Ehefrau in das Heimatdorf zurückkehrt. Weil die Menschen im Wirtshaus nach dem Begräbnis den Fernseher aufgedreht haben und von Waldbränden in vielen Ländern Europas erfuhren, war es keine „schöne Leich“ gewesen.  Das weibliche Paar wird erst richtig akzeptiert, als die Ärztin eine Hausarztpraxis im Dorf eröffnet und als Bezahlung auch „Selbstgebranntes“ und „Selbstgebackenes“ akzeptiert. Die Erzählerin ist Restauratorin und arbeitet am Deckenfresko der Kirche, das erst durch „das erste Erdbeben in Österreich, das alle spürten“, freigelegt wurde.

Niederberger entwirft auf knapp 12 Manuskriptseiten ein ebenso dystopisches wie archaisches Szenario und erzählt davon, was geschehen könnte, wenn die Ressourcen in der Welt weniger werden. Sie konzentriert sich auf den begrenzten Raum eines Dorfes, einige Personen, einen Tag mit Erinnerungen und Rückblenden. Sie interessiert, was passiert, wenn Klimaerwärmung und Teuerung fortschreiten, der Strom immer wieder ausfällt und wie schleichend und von vielen unbemerkt die Veränderungen stattfinden. Nicht kollektiv, sondern individuell suchen die Bewohner:innen Abhilfe, merken aber viel zu spät, dass es eigentlich zu spät ist.

Paradoxerweise frieren alle im Dorf, obwohl die Erwärmung zunimmt, weil es keine Heizmaterialien wie Gas, Kohle, Öl gibt. Um zu heizen, bleibt ihnen nur mehr Holz und deshalb schlagen sie trotz eines Verbots in den Nächten im Wald das Heizmaterial, es herrscht „Holzwilderei“. Schließlich muss auch das alte Kinderbett der Erzählerin daran glauben, die Partnerin schlägt es zu Brennholz. Und die Rehe müssen in ein „Wildtiergehege“ eingesperrt werden – ein Wort, das ebenfalls ein Widerspruch ist, wie die Erzählerin feststellt, weil sie in der Nacht aus dem Wald fliehen und viele Autounfälle verursachen beziehungsweise dabei sterben. Dass auch die Nahrungsmittel nur mehr begrenzt vorhanden sind, ist nicht verwunderlich. Es gibt noch Getreidekaffee, aber selbst die Kiwi-Marmelade geht zu Ende.  Auch den üppig wachsenden Kiwibäumen ist es zu trocken geworden.  Und die Hühner müssen eingesperrt werden, weil sie sonst gestohlen werden. Geld ist knapp, Medikamente fehlen, der Tauschhandel gewinnt an Bedeutung. Die Jagd auf Rehe und diverse Vogelarten wird zur Überlebensstrategie.

Lisa-Viktoria Niederberger zeigt die ökonomischen und sozialen Verwerfungen am Beispiel einer fiktiven Dorfwelt, in der sich globale Entwicklungen wie in einem Brennglas bündeln. Auch die Paarbeziehung zwischen den beiden Frauen erweist sich als brüchig. Zwischen der pragmatischen Ärztin, die täglich mit den Sorgen, Krankheiten und Auswirkungen der Katastrophe auf die Menschen konfrontiert wird, gibt es wenig Verständnis für die Partnerin, die sich über Blattgold freut, um die Kirchenrestaurierung zu vollenden. Diese hat mit ihrer Arbeit aber noch Hoffnung auf eine Zukunft. Dass auch Erfahrungen und Wahrnehmungen aus der Corona-Pandemie wie Gewalt und Konflikte in den Familien in den Text „Der Wald“ eingeflossen sind, bestätigt die Autorin. Das Ende der Erzählung bleibt offen.

Für die verdichtete Erzählweise und die ebenso bilderreiche wie präzise Sprache der Autorin erweist sich die Kurzgeschichte als ideale Form. Sie lässt Leerstellen offen, belässt Andeutungen, die den Leser:innen viel Raum für eigene Interpretationen bieten und erzeugt einen Spannungsbogen, der in unerhörte Ereignisse münden kann. Als Meisterin der Kurzprosa erweist sich Lisa-Viktoria Niederberger schon in den drei Texten ihres Bandes „Misteln“, der 2018 in der Edition Mosaik erschienen ist. In „Mit dem Mohn muss man dann laufen“ erzählt sie in drei Kapiteln aus drei verschiedenen Perspektiven von traumatischen Kindheitserfahrungen von Zwillingen und einem Nachbarbuben. Nur mit wenigen Strichen zeichnet sie in „Da ist kein Regenbogen“ wie prekär das Liebesverhältnis zwischen einem verheirateten Mann und seiner Geliebten ist und in „Daheim auf der Tankstelle“ folgen wir der Fahrt einer jungen schwangeren Frau, die mit einem LKW-Fahrer nach Tschechien unterwegs ist, um den Vater ihres Kindes zu finden.

Lisa-Viktoria Niederberger ist eine vielseitige Autorin, geboren 1988 in Linz. Sie arbeitete im Buchhandel, in der Nachtgastronomie und im Literaturverein Erostepost im Literaturhaus in Salzburg, wo sie Germanistik und Kunstgeschichte studierte. Das Studium der Kulturwissenschaften setzte sie in Linz fort, wo sie als Schriftstellerin, Kulturpublizistin und Leiterin von Schreibwerkstätten, u. a. auch an der Kunstuniversität Linz, lebt. Für ihre zahlreichen Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, ihre Essays und ihre Kinderbücher erhielt sie bereits zahlreiche Preise, u.a. Talentförderungsprämie des Landes OÖ, Kunstförderpreis der Stadt Linz, Start-Stipendium des Bundes, Theodor-Körner-Förderpreis. Von 2020 bis 2022 verfasste sie im Auftrag der Wissensstadt Salzburg gemeinsam mit der Illustratorin Sandra Brandstätter die dreiteilige Kinderbuchreihe „Stadt-Abenteuer mit Nali und Nora“, die Erstklässler:innen als Geschenk zur Einschulung erhielten. Und weil noch viel Recherchematerial übrigblieb von ihrer Arbeit am Kindersachbuch „Helle Sterne, dunkle Nacht“ über Lichtverschmutzung, erschienen 2024 im Achse Verlag, beschloss sie, einen Essay über die Ambivalenzen des Dunklen zu verfassen. „Dunkelheit. Ein Plädoyer“ erschien im Frühjahr 2025 im Haymon Verlag.

Sowohl den Kurzprosatext „Der Wald“ wie den Essay „Dunkelheit“ kann man dem Genre „Climate-Fiction“ zuordnen, ein Begriff, der Texte charakterisiert, die die Grenzen zwischen Gegenwartsliteratur und Science-Fiction ausloten und zwischen Dystopie und Utopie balancieren, zwischen Warnung und Hoffnung. Das Genre ist nicht neu, aber seit einigen Jahren kann man geradezu von einem Hype sprechen, was angesichts der rasanten Erwärmung nicht verwundert und manche sprechen von „Climate Fiction“ als „Realismus unserer Zeit“, als Teil einer „Poetik der Verantwortung“.  (Reß, 2024, Tor online)

In vier Kapiteln sucht die Autorin „das Dunkle [zu] durchleuchten“, schreibt über die Geschichte der Straßenbeleuchtung, zunehmende Lichtverschmutzung, den Zusammenhang von Beleuchtung und Schlafverhalten und den Tod. Der Essay mischt verschiedene Schreibweisen, ist autobiographisch grundiert, wissenschaftlich recherchiert, wozu auch Experten:inneninterviews zählen, und ist Literatur – ein „Liebesbrief an die Dunkelheit“ (S. 21). Am Ende jedes Kapitels zeichnet Niederberger eine literarische Utopie als Vision für die Zukunft. Die Dystopie „Der Wald“ wurde nach ihren eigenen Angaben 2023 geschrieben, zwei Jahre später, einige Grad wärmer, hat sich ihre Position verändert. Die Autorin bezieht sich auf Donna J. Haraways erzählerische Methode der „spekulativen Fabulation“, die „alternative Zukünfte und mögliche Welten imaginiert, um konventionelle Denkmuster zu hinterfragen“, die diese in ihrem Buch „Unruhig bleiben“ (Campus Verlag, 2018) formuliert.

Auf ihrer Homepage stellt sich Lisa-Viktoria Niederberger aktuell so vor: „Ich bevorzuge eine lebensnahe Schreibweise, oft in Form der Autofiktion. Mein literarisches Schaffen spiegelt meine feministischen Überzeugungen, meine politischen Ansichten und meinen geisteswissenschaftlichen Hintergrund wider. Ich liebe Utopien und das Schreiben von hoffnungsvollen, besseren Realitäten. Ich glaube, dass wir sie dringend brauchen.“

Ich gratuliere Lisa-Viktoria Niederberger im Namen der Jury – das waren mit mir Barbara Neuwirth, Claudia Sackl, Brigitte Schwens-Harrant – zum Frau AVA Preis 2025 sehr herzlich und freue mich auf viele weitere Texte von einer Autorin, der es gelingt, eine Sprache zu finden für jene Verwerfungen unserer Gesellschaft, die schleichend anfangen und vor denen wir gerne die Augen verschließen.