Ich bin im Museum im Schloss Orth, es ist ein bewölkter Sonntag, und alle anderen Besuchenden grüßen mich auf Slowakisch. Wenn ich Dobry Den antworte, spießt sich etwas in meinem Mund, ahme ich eine Sprache nach, die ich gleichzeitig kenne und nicht kenne, die meine Sprache sein könnte und es doch nicht ist. Ich erinnere mich an das Internetvideo von Star, einem geretteten Vogel, der gelernt hat, die Kosenamen, mit denen ihn seine Besitzerin anspricht, perfekt zu imitieren, ohne ihren Inhalt zu kennen. Hier im Nationalpark sehe ich keine Stare, aber einen Storch auf dem Dach. In der Schule haben wir gelernt, dass der Storch Frösche frisst, hier lerne ich, dass das nicht mehr stimmt. Dass es ein Amphibiensterben gibt, dass die Störche auf den Feldern nun nach Mäusen suchen. Dass sich vieles ändert, aber manches bleibt. Die Störche bauen ihre Nester immer noch hoch oben. Ich stehe hinter einer kleinen slowakischen Reisegruppe im Burghof und lausche ihrer Führung, genieße den Schwall unbekannter Worte, ihren vertrauten Klang, folge den Händen der Rangerin und überlege, was sie gerade erklärt. Vielleicht spricht sie über Dachformen, über die frühere Nutzung der verschiedenen Gebäudeteile, vielleicht gibt sie erst einen geschichtlichen Überblick und erklärt dann, was das Sonnenfresko an der Wand bedeutet. Die Besuchergruppe, allesamt im Rentenalter, nickt, lächelt, folgt interessiert den Händen und den Ausführungen. Sie stellen keine Zwischenfragen, sagen nur ein Wort, immer wieder, nach jedem Absatz der Rangerin sagen sie Ano, immer wieder Ano. Ano heißt auf Slowakisch ja, aber hier bedeutet es wohl interessant, haben wir verstanden oder ein überraschtes tatsächlich?
Was ich nicht gedacht hätte: dass mich das Hören einer Sprache so traurig machen kann, und wie nah das Fremde und das Vertraute beieinander liegen können. In diesem Innenhof neben den Slowakinnen und Slowaken habe ich drei Möglichkeiten: gehen, weinen oder Kopfhörer aufsetzen. Ich entscheide mich für Letzteres und wünsche mir Ersteres. Ich möchte, dass mich eine der alten Frauen fragt, ob alles in Ordnung ist. Mir ein Stofftaschentuch anbietet und sich neben mich auf eine Bank setzt. Mir zuhört, wenn ich von meiner Kindheit erzähle, von der Küche meiner Großeltern, den Geräuschen und Gerüchen. Wie meine Oma große Knödel in kochendes Wasser schabt, das Paprikahendl mit einem Löffel Rahm abschmeckt, mein Opa mir im Unterhemd gegenübersitzt. Wir stoßen an, ich mit Himbeerdicksaft, er mit Bier, und wie er und Oma dieses Konglomerat sprechen, ein paar Worte Deutsch, ein bisschen, ein bissenko Slowakisch, und manche Worte, das verstehe ich erst viele Jahre später, sind ein Mischmasch. Ich möchte jemandem erzählen, dass das meiste von dem, was meine Großeltern von ihrer alten Kultur bewahrt haben, von dem, was vorher war, was drüben war, mit diesen zwei Dingen zu tun hatte: Sprechen und Essen. Und dass ich das Wenige, das ich hatte, das ich kannte, verloren habe. Meine Oma ist seit 15 Jahren tot, mein Opa seit 10. Die Erinnerung an den Klang ihrer Stimmen habe ich schon lange verloren, nur ein kleiner Nachhall ist geblieben, eine vage Vorstellung davon, wie sie vielleicht geklungen haben könnten. Ich weiß noch, wie sehr ich ihr Essen geliebt habe, all die Knödel, Soßen, das Fleisch, die Strudel und Kuchen, aber den Geschmack kann ich nicht mehr rekonstruieren. Alles verschwimmt.
Ich sitze auf der Dachterrasse der Donaufähre Haslau, trinke einen Verlängerten, esse einen Apfelstrudel und schaue aufs Wasser. Das Schiff ist vertäut, schaukelt leicht. Die Kellnerin scherzt mit einer Gruppe Radfahrer am Nebentisch. Drecksbrühe, sagt einer und spuckt über die Reling ins Wasser. Die Schönheit der Donau, denke ich, liegt im Auge des Betrachters, und vielleicht braucht man eine Geschichte mit ihr, um zu begreifen, dass sie mehr ist als nur ein Fluss. Die Donau ist manchmal braun, oft grün und selten blau, aber immer gewaltig. Für mich ist es ganz einfach: Die Donau verbindet das, wo meine Familie herkommt, mit dem, wo ich bin. Ich muss ihr nur ein paar Kilometer flussabwärts folgen, dann wäre ich dort. Aber sie ist viel mehr als das, mehr als ein Mosaikstein in der Familiengeschichte, die Donau ist etwas, das sich durch mein Leben zieht, und das ist kitschig, aber wahr.
An der Donau liegen wichtige Orte, zu ihr zieht es mich, schon immer. Da ist das Hochwasserschutzgebiet mit der Hundefreilaufzone, wo ich während des ersten Lockdowns so getan habe, als hätte ich dort zufällig meine Mutter getroffen, bis ich gemerkt habe, dass das sowieso niemanden interessiert. Die Donau ist das, was ich in den Jahren in Salzburg auf die Frage, was ich von Linz am meisten vermisse, geantwortet habe und wofür ich selten Verständnis bekam, also habe ich immer wieder versucht, es zu erklären. Dass für mich und meine Freundinnen, die wir an ihren Ufern aufgewachsen sind, das erste alljährliche Bad in der Donau den Beginn des Sommers und das letzte sein unwiederbringliches Ende einläutete. Die Donau oder besser die Pappeln und Weiden, die sie in unserem Dorf säumten, uns die Freiräume schufen, die wir brauchten. Am Schotterstrand der Donau, mit Blick auf den Kürenberger Wald am anderen Ufer, habe ich meine erste Zigarette geraucht, meine erste Cola Weiß getrunken, meinen ersten Rausch gehabt, mit meinen Freundinnen viele erste Dinge getan. Wir zeigten den vorbeifahrenden Kreuzfahrtschiffen unsere Brüste und Hintern, verloren Zigarettenschachteln, Bierflaschen, Jacken und Discmans, wenn uns die hohen Wellen der Schiffe überraschten. In meiner Jugend war die Donau ein Synonym für Freiheit, für Mut. Wir schauten uns Bilder von den großen Fischen der Donau an, von Stören, Huchen, Wallern, Welsen, gruselten uns bei dem Gedanken, dass solche Tiere in unserer Nähe sein könnten, und ließen uns trotzdem an heißen Tagen von der Strömung viele hundert Meter flussabwärts treiben.
Jetzt gehe ich zur Donau, wenn mir die Welt zu viel geworden ist, wenn ich einen Ort brauche, der Stabilität, Beständigkeit markiert, weil mich der Gedanke beruhigt, wie alt der Fluss ist, was er schon überdauert hat und überdauern wird, und wenn ich Donau sage, dann meine ich das linke Donauufer. Vielleicht ist das auch eine Eigenart von mir, dass es für mich ein richtiges und ein falsches Donauufer gibt, ein gutes und ein schlechtes, und dass ich mich nördlich der Donau wohler fühle als südlich. Die Donau war und ist eine Grenze. Sie hat die Kelten von den Römern getrennt, sie trennt heute noch Linz von Urfahr, und wer glaubt, das sei eine Stadt, irrt. Die Donau hat aber auch für einen wichtigen Teil unserer Stadtgeschichte die russische von der amerikanischen Besatzungszone getrennt, woran heute noch eine Tafel an der Nibelungenbrücke erinnert. Jene Brücke, die ich als Linzer Schülerin mindestens zweimal am Tag überquerte, jene Brücke, auf der ich einmal stand und nachdem ich versehentlichem Pilze genommen hatte, ewig auf die grell leuchtende Fassade des gegenüberliegenden Museums starrte. Jene Brücke, die von Häftlingen des nahe gelegenen KZ-Mauthausen errichtet wurde und über die die Straßenbahn fuhr, in der ich 2021 eine fremde Frau anschrie, die die Maskenpflicht mit der Shoah gleichsetzte. Die Brücke, die mein Opa 1945 mit falschen Papieren überquerte, um meine Oma zu suchen, von der er gehört hatte, dass sie aus Bratislava hierher geflohen war.
Plötzlich ist die Sprache wieder da, das Dobry Den, diesmal von der Kellnerin, die vielen Ano in der Gruppe der neu angekommenen Gäste. Das Klappern des Geschirrs, mit dem Kaffee und Kuchen auf den Nebentisch gestellt werden, und ein neues, altes Wort, das ich wiedererkenne: Ďakujem, danke. Ich beobachte die slowakische Familie, drei Generationen an einem Tisch. Wie sich eine Frau und ihre erwachsene Tochter einen Marillenstrudel teilen und nach den ersten Bissen anerkennend nicken, während die, die ich für Großvater und Enkel halte, am Geländer stehen, der Mann die Hände schützend auf die Schultern des Kindes gelegt, das aufgeregt ins Wasser zeigt. Dieses Kind, denke ich, versteht ihn schon, den Reiz der Donau. All das Wasser, all der Dreck, das Treibholz, die Tiere, der Müll, die Muscheln und die Möwen, die Weidenpollen, die Biber, die Schiffe, die Schotterbänke, das Grau, all das ist der Fluss, ist die Donau, ist zuhause. Ich winke der Kellnerin zu, bestelle ein zweites Stück Kuchen, schließe die Augen, spüre den Wind, rieche das Wasser.
„Die Donau (A Lovesong)“ entstand im Juni 2023 im Rahmen des Nationalparks Austria Medienstipendiums bei einer Residency im Nationalpark Donau-Auen.